Titel
Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Ein historisches Lesebuch


Herausgeber
Ulrich, Bernd; Ziemann, Benjamin
Erschienen
Anzahl Seiten
160 S.
Preis
€ 18,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Moll, Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz

Der Erste Weltkrieg, als Forschungsthema im deutschen Sprachraum lange vom zweiten großen Krieg des vergangenen Jahrhunderts überschattet, ja in eine Nischenposition gedrängt, hat in der historischen Forschung wieder Hochkonjunktur – und dies schon geraume Zeit vor dem herannahenden „Jubiläumsjahr“ 2014. In rascher Folge erscheinen Gesamtdarstellungen, Quelleneditionen und Spezialuntersuchungen, die freilich wegen ihrer Zahl und häufig auch wegen des ausufernden Umfangs selbst so genannter Überblicke in erster Linie Fachleute ansprechen. Leicht handhabbare, knappe und kommentierte Quellensammlungen, geeignet zur Veranschaulichung des komplexen Themas im Schulunterricht und in der universitären Lehre, sind nach wie vor rar. Wilhelm Deists verdienstvolle Sammlung über das Militär und die Innenpolitik des Deutschen Reiches ist nahezu 40 Jahre alt und eignet sich allein wegen ihres Umfangs schlecht zur Verwendung im Unterricht.1

Diese Lücke will nun ein schmaler Band schließen, dessen Herausgeber Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann durch zahlreiche Studien über den Ersten Weltkrieg, insbesondere zur Stimmung im deutschen Heer und an der sogenannten Heimatfront, ausgewiesen sind. Anders als Deist geht es ihnen nur am Rande um Aspekte der Innenpolitik. Diese sowie die allgemeine wirtschaftliche Lage werden allerdings berücksichtigt, insoweit sie sich im Briefverkehr zwischen Front und Heimat spiegeln – und dies tun sie ständig. Im Zentrum der rund 200 ganz oder auszugsweise abgedruckten Dokumente steht vielmehr der Frontalltag, ein schwierig zu definierender Begriff, den Ulrich und Ziemann als bekannt und unmissverständlich voraussetzen. Da ein Großteil der edierten Quellen an der Westfront entstanden ist und die Ost- sowie die Südfront nur sporadisch Erwähnung finden, meint Frontalltag hier das, was landläufig mit dem Ersten Weltkrieg assoziiert wird: jahrelanger Stellungskrieg, Trommelfeuer, Einsatz von Giftgas und meist vergebliches Anrennen gegen die Schützengräben des Gegners.

Es bedarf schon sorgfältiger Lektüre, um zu erschließen, dass es auch – und oft nur wenige Kilometer hinter der vordersten Linie – das berühmt-berüchtigte Leben in der Etappe gab, wo die Truppe sich nicht nur ausruhte, sondern ihre knappe Freizeit gern zum „Organisieren“ verwendete. Immerhin mangelt es nicht an Quellen, welche das graue Einerlei des Frontgeschehens inklusive öder Langeweile zur Sprache bringen. Die daraus resultierende Abstumpfung wird ebenfalls wiederholt angeschnitten, und dies durchaus zu Recht, lag hier doch eine wesentliche Wurzel für den sukzessiven Zerfall der Kampfmoral.

Genau diesen Abbau der Moral bis zum letztendlichen Vorherrschen eines weit verbreiteten Gefühls der Gleichgültigkeit („Hauptsache Schluss“) wollen Ulrich und Ziemann darstellen und erklären. So gesehen verfolgt der Band auch ein analytisches Ziel: Ausweislich der Einleitung geht es um eine Widerlegung der sogenannten Dolchstoßlegende, welche den Kriegsausgang nicht (vorrangig) auf das eigene Unterliegen auf dem Schlachtfeld zurückführte, sondern dafür finstere Kräfte in der Heimat verantwortlich machte: Juden, Pazifisten, Sozialdemokraten. Richtig ist zweifellos, dass dieser Mythos in der Zwischenkriegszeit zum dominanten Diskurs aufstieg und sich damals eine heroische Deutung des Krieges durchsetzte. Ob es heute noch erforderlich ist, „die Wirklichkeit der Front zu rekonstruieren“ und sie „von den ausgebrannten Schlacken ihrer ideologischen Deformierungen zu befreien“ (S. 11), erscheint aber doch zweifelhaft; Ulrich und Ziemann tragen hier Eulen nach Athen.

Das Bestreben, den Mythos vom „im Felde unbesiegten“ deutschen Heer zu zerstören, hat sichtlich die Auswahl der Dokumente geleitet. Diese finden zusammen mit 60 kurz eingeleiteten Quellenblöcken Eingang in die fünf chronologisch-thematischen Bereiche: Kriegsbeginn, Kriegswirklichkeit, Missstände, Verweigerungen, Das Ende. Man darf hoffen, dass die Überschrift „Kriegswirklichkeit“ nicht nur für das zweite Kapitel, sondern für den ganzen Band zutrifft. Diese Generalisierbarkeit, über den so überschriebenen Themenblock hinaus, gilt ebenso für die „Missstände“, ein Thema, das – abgesehen vom ersten Abschnitt – den ganzen Band wie ein roter Faden durchzieht. Den Fachmann wird kaum überraschen, dass die Soldaten, deren „Perspektive von unten“ (S. 11) dominiert, ständig über ihre Lebensumstände zu klagen hatten. So sehr das Schimpfen wegen schlechten oder unzureichenden Essens, unter Wasser stehenden Schützengräben, Kälte und schikanierenden Vorgesetzten den Frontalltag insbesondere an der Westfront charakterisierte und zur Zermürbung der Truppe beitrug, so redundant ist doch die hierdurch dem Benutzer vermittelte Information.

Abgesehen von einer gewissen Monotonie, die sich bei durchgehender Lektüre einstellt: Der Leser muss weitgehend selbst entscheiden, inwieweit beispielsweise Feldpostbriefe das Gerede der Truppe, die sprichwörtlichen Latrinenparolen, wiedergeben oder wahre Sachverhalte schildern. Unbestritten ist, dass es alle in den Quellen aufgezeigten und heftig beklagten Missstände tatsächlich gab. Schon weniger klar ist, wie repräsentativ etwa die oftmals thematisierten, in der Etappe prassenden Stäbe für den Frontalltag waren. Noch mehr ist Ratlosigkeit beim Leser zu befürchten, wenn er sich unwillkürlich fragen muss, wie eine – nach der Mehrzahl der Dokumente – auf den Hund gekommene, schlecht geführte Armee mehr als vier Jahre gegen einen zahlenmäßig und materiell weit überlegenen Gegner nicht nur aushalten, sondern diesen bis in den Sommer 1918 in arge Bedrängnis bringen konnte. Diese Frage drängt sich umso mehr auf, als ausschließlich Quellen deutscher Provenienz abgedruckt werden (was der Titel des Bandes nicht explizit ausweist) und der Leser daher nicht beurteilen kann, ob die Lebensbedingungen der Soldaten der Ententemächte nicht etwa ähnlich beschaffen waren.

Was die deutsche Armee angesichts derart widriger Umstände so lange zusammenhielt und Disziplin bewahren ließ, welche integrativen Klammern Front und Heimat jahrelang, wenn auch an der Oberfläche, verbanden, all dem widmen Ulrich und Ziemann nur geringes Interesse. Dies gilt sowohl für die Auswahl der Dokumente wie auch für die beigefügten Kommentare. Die edierten Zeugnisse werfen noch eine weitere Frage auf, deren Beantwortung freilich den Rahmen des Bandes gesprengt hätte: Wenn, wie unbestritten sein dürfte, sich die Masse der Soldaten spätestens 1918 nach Demokratie, Frieden und mehr sozialer Gerechtigkeit sehnte, warum wurde diese Sehnsucht schon so bald nach Kriegsende weitgehend verschüttet und vom Dolchstoß-Mythos überdeckt?

Dem Bekunden der beiden Herausgeber zufolge will der Band einen repräsentativen Querschnitt „des“ Frontalltags bieten (S. 12), was ihm – mit einigen Einschränkungen – auch gelingt. Der aufmerksame Leser wird allerdings bemerken, dass keineswegs alle abgedruckten Dokumente von der Front oder ihrem Umfeld stammen. Vor allem der erste Abschnitt über den Kriegsbeginn bringt eine Fülle ziviler Quellen über das Geschehen in der Heimat. Freiwilligenmeldungen und Rekrutierungen, der Abschied von der Familie, der Transport an die Front usw., all dies hat zweifellos mit dem Krieg, nicht jedoch direkt mit dem Frontalltag zu tun. Der für die Ausnahmesituation des Sommers 1914 noch zu konstatierende Optimismus steht sogar in scharfem Kontrast zum späteren Alltag in den Schützengräben. Noch problematischer wird es, wenn – allerdings nur vereinzelt – in der Zwischenkriegszeit entstandene Kriegsromane oder eine 1939 eingereichte Dissertation als authentische Primärquellen für die Kriegsjahre präsentiert werden (Dokumente Nr. 18 a und 20 n).

Zu den Schwachstellen gehören ferner die zwar interessanten, jedoch ohne Verbindung zum Text stehenden 13 Abbildungen, die optisch schwer erkennbare Trennung zwischen Kommentaren und Quellentexten sowie die schon erwähnte Konzentration auf die Westfront. Positiv zu bewerten sind die knappen, aber aussagekräftigen Vorbemerkungen zu jedem Dokument bzw. Themenblock, die Erklärungen militärischer oder zeitbedingter Spezialausdrücke sowie die Querverweise, welche an verschiedenen Stellen des Bandes stehende Texte miteinander in Beziehung setzen.

In Summe vermittelt der Band auf wenigen Seiten ein durchaus anschauliches Bild „des“ Frontalltags, wozu nicht zuletzt beiträgt, dass die Feldpostbriefe die unbeholfen-hilflose Sprache einfacher Männer ungeschönt wiedergeben. Als zentrale Themen schälen sich die tiefe Kluft zwischen Mannschaftssoldaten und militärischer Führung sowie die schon Ende 1914 mit Händen zu greifende Verzweiflung und Friedenssehnsucht der Truppe heraus. Studiert man die hier abgedruckten Erlasse der militärischen Kommandostellen, so zeigt sich, dass diese meist über die Zustände an der Front durchaus im Bilde waren und im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten nach geeigneten Abhilfen Ausschau hielten, was die Kritik „von unten“ zumindest partiell relativiert. Stellenweise vermitteln die Dokumente Einsichten, die so nicht allgemein bekannt sind, etwa über den auch unter den Fronttruppen grassierenden Hunger. Hin und wieder werden sogar gängige Klischees bestätigt, beispielsweise jenes vom Krieg als männliches Erlebnis und Abenteuer, von ungebrochenen Siegeshoffnungen und Gefühlen eigener Überlegenheit (Dokumente Nr. 5 a, 6 d, 6 e).

Der Band eignet sich schon mangels echter Konkurrenz gut für die Verwendung im Schulunterricht. Wegen der Komplexität, ja Widersprüchlichkeit der aus den Quellen sprechenden Aussagen sollte dieser Einsatz wenn möglich unter fachkundiger Anleitung und nach sorgfältiger Vorbereitung erfolgen. Andernfalls werden gerade Jugendliche, die mit den von Ulrich und Ziemann zusammengetragenen, berührenden Quellen arbeiten (müssen), sich die Frage stellen (und darauf keine Antwort finden): Wie war ein solcher Krieg möglich und warum wurde er nicht früher beendet?

Anmerkung:
1 Wilhelm Deist (Hrsg.), Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918. 2 Bände, Düsseldorf 1970.